Die Griechen von Kettwig

Am 30. März 1960 schlossen Deutschland und Griechenland ein Abkommen zur organisierten Anwerbung griechischer Arbeitskräfte ab. In der Folge kam es zu einer massiven Auswanderungswelle, insbesondere aus den armen nördlichen Provinzen Griechenlands: Ganze Trupps von Männern kamen per Lastwagen, zu Fuß, mit der Bahn und per Schiff, um sich in Athen oder Thessaloniki für eine Ausreise in die Bundesrepublik zu bewerben.

Die Geschichte der Griechen von Kettwig bietet die seltene Gelegenheit einer komplexen Spurensuche. Wie in den Karteikarten der Firmendatei Scheidt, auf denen die Namen und Daten der griechischen „Gastarbeiter“ nach ihrer Ankunft in Essen Kettwig festgehalten wurden, verweben sich hier die Erzählungen von Griechen wie von Deutschen, von Arbeitnehmern wie Arbeitgebern, von Frauen und Männern, erster wie dritter Generation. Die Verknüpfung von Unternehmensgeschichte, Alltagskultur und Stadtentwicklung macht die Geschichte Kettwigs und seiner Griechen für die Stadtgeschichte Essens und die Geschichte Nordrhein-Westfalens einzigartig und unverwechselbar.

Himmel und Hölle

Die Dramaturgie der Migration

So hoch fliegend die Hoffnungen der griechischen Migranten waren, mit dem Grenzübertritt nach Deutschland in den „Himmel“ aufzusteigen, fanden sie sich im Alltag nicht selten in einer „Hölle“ wieder. So lässt sich die Geschichte der Kettwiger Griechen in der Dramaturgie des „Himmel und Hölle“-Spiels erzählen.

Vorgeschichte

Die Besatzung

Die Anbahnung der griechischen Arbeitsmigration nach Deutschland war auch eine Folge der „verbrannten Erde“, die deutsche Besatzer im Zweiten Weltkrieg in Griechenland hinterließen. Von 1941 bis 1944 litt Griechenland unter der deutschen Besatzung. Die griechische Résistance operierte in den Bergen und ließ sich auch durch dragonische Strafmaßnahmen der Deutschen nicht abschrecken. Ganze griechische Dörfer wurden liquidiert – Erinnerungen, die bis heute tief im kollektiven Gedächtnis Griechenlands und seiner Auswanderer sitzen.

Der Orienttabak

Die meisten Auswanderer kamen aus den nördlichen Provinzen Griechenlands, den so genannten „Periferies“. Bis in die 1950er Jahre waren Makedonien, Thessalien und Thrakien vom Tabakanbau (auf dem Land) und von der Tabakverarbeitung (in der Stadt) abhängig. Die Hafenstädte Kavala und Saloniki galten als Hauptumschlagplätze für den berühmten „Orient-Tabak“. Als die griechische Tabakindustrie durch das Vordringen des amerikanischen Virginia-Tabaks nahezu vollständig zum Erliegen kommt, hat das für die ökonomische Situation in den Armenhäusern Griechenlands katastrophale Folgen. Vielen bleibt als letzter Ausweg nur die Migration.

Das Märchen vom Orienttabak

Viele der jungen Frauen, die Anfang der 1960er Jahre nach Deutschland kommen, haben als Mädchen noch auf den Tabakfeldern gearbeitet. Soula Palatianou berichtet, im Alter von zehn Jahren sei sie gemeinsam mit ihrem Bruder des Nachts von ihrem Vater geweckt worden, um im Mondschein die Tabaksetzlinge zu pflanzen. Dafür hielt der Vater sie mit Erzählungen schadlos, wie dem Schauermärchen von der „Stringla“.

 

 

 

»Alle mussten auf die Knie. Wir fingen morgens um fünf Uhr an
und arbeiteten bis neun oder zehn Uhr abends,
danach mussten wir dann noch eine Stunde zurück ins Dorf laufen.«

Soula Palatianou

 

Aufbruch

Fish out of Water

Die Deutschlandbilder der griechischen Arbeitsmigranten setzten sich aus unterschiedlichen Facetten zusammen: Augenzeugenberichten über Greultaten der Deutschen im Krieg, sowie idealisierten Bildern vom „Wunder“ der deutschen Wirtschaft, wie es in der heimischen Kino-Wochenschau projiziert wird: Die Deutsche Mark strahlt große Faszination aus, man spürt dort in „Europa“ geht etwas vor sich, und man könnte Teil daran haben. Ein regelrechtes „Migrationsfieber“ bricht aus, ganze Dörfer entvölkern sich. In Thrakien und Mazedonien gibt es kaum eine Familie, die nicht von der Migration betroffen ist. Von 10 Millionen Griechen wird jeder Zehnte zumindest zeitweise nach Deutschland gehen.

»Bevor ich ging habe ich mich noch einmal ordentlich betrunken.
Meine Eltern wollten nicht, dass ich gehe.
Aber ich sagte ich werde es machen, wenn es gut ist, bleibe ich,
wenn nicht, komme ich zurück.«

Dimitrios Kostelidis

Vamos

Es ist ein besonderer Augenblick, wenn man das Dorf zum ersten Mal verlässt. Die Hoffnungen auf ein besseres Leben sind groß, ebenso die Ängste vor dem Unbekannten. „Fish out of Water“ / „der Fisch verlässt das Wasser“, nennen Dramaturgen den Augenblick, wenn der Held mit der ihm vertrauten Alltagswelt bricht. Und wie Helden Schwellen überschreiten und „Prüfungen“ bestehen müssen, so auch Migranten.

 

»Mein Traum war es zu emigrieren. Ich war so verzweifelt vom vielen Arbeiten. Ich wollte endlich von der Landwirtschaft weg! Ich hatte immer nur im Kopf, eines Tages werde ich gehen, emigrieren und in einer Firma arbeiten. Mit vielen Menschen, nicht immer nur alleine. Mein Traum war es Arbeiterin zu sein in einer großen Firma mit vielen anderen. Und diesen Traum habe ich mir verwirklicht.«

Fani Gkaintatzis

 

 

»Wir wurden untersucht, ich weiß nicht mehr genau wie viele Tage lang.«

Chrissoula Dimadis

Germaniki Epitropi - Organisierte Anwerbung

Am 30. März 1960 wurde das Deutsch - Griechische Anwerbeabkommen unterzeichnet. In Athen wird die Germanikin Epitropin, die Deutsche Kommission Griechenlands eingerichtet. Die Außenstelle der Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg soll im Auftrag der deutschen Unternehmen geeignete Arbeitskräfte rekrutieren, die berufliche und gesundheitliche Eignung der Bewerber feststellen und die Reise nach Deutschland organisieren. Anfang 1961 nimmt die so genannte „Außenstelle“ in Thessaloniki ihre Arbeit auf, bald schon werden hier wesentlich mehr Kräfte abgefertigt als von Athen/Piräus. An nur einem einzigen Tag stellen sich in Saloniki bis zu 6000 Personen vor.

 

 

 

 

 

 

 

Hüter der Schwelle

Von Anfang an beziehen sich viele der Anfragen deutscher Firmen bei der Deutschen Kommission Thessaloniki auf Frauen. Vielen griechischen Frauen eröffnet die Arbeit in Deutschland eine Möglichkeit, sich ihre „Prika“ – die Aussteuer – selbst zu verdienen. Häufig gehen sie als Vorhut, um ihre Männer nachzuziehen. So beziehen sich im Mai 1961 58 % der Anfragen bei der Deutschen Kommission Thessaloniki auf Frauen – ein Rekord in der gesamten Geschichte der organisierten Arbeitsmigration. Auch Willy Wittkämper, der Personalchef der Kettwiger Spinnerei Scheidt, zeigt sich besonders interessiert an den Frauen vom Mittelmeer.

»Ich hatte so viele Mädchen im Bereich Bottrop bis Gelsenkirchen angeworben, dass fast keine mehr da waren. Jetzt stand ich da, watt nu? Ich sag: Herr Scheidt, ich schlage vor, wir versuchen es mal mit Griechen. Ja, sagt der, in Ordnung.«

Willy Wittkämper

 

»Ich bin also morgens nach dem Frühstück zu Fuß zur Kommission gegangen, und dann kamen nach und nach die Griechen, die die Nacht über auf der Straße ... die waren schon einen Tag vorher angereist, damit sie nur ja nichts verpassten, und dann ging das los. Dann kamen die einzeln zu den Vermittlern. Und neben dem Schreibtisch habe ich gesessen. Um dann zunächst mal so von den Schuhsohlen bis hinauf in die Haarspitzen die äußere Erscheinung. Vor allen Dingen: die Hände! Ich konnte also für eine Spulerin oder Ringspinnerin keine Wurstfinger gebrauchen. Ja?!«

Willy Wittkämper

 

»Wenn man das erste Mal das Dorf verlässt,
dann hat das eine große Bedeutung.
Egal wohin man fährt, ob Athen oder Deutschland.«

Nikos Polidis

Ankunft

Erste Eindrücke

Von der zentralen Weiterleitungsstelle München aus werden die griechischen Arbeitsmigranten auf ganz Deutschland verteilt, sie fahren nach Stuttgart, Frankfurt und Düsseldorf weiter – oder nach Alt-Essen, wo die Mitarbeiter der Firma Scheidt sie bereits erwarten. Viele Griechen empfinden Trennungsschmerz, die Stadt Essen erscheint ihnen grau und die Deutschen kalt. Andere bewundern das deutsche Organisationstalent: „Wer, wenn nicht diese Deutschen, werden uns zu Menschen machen?!”

 

 

»Ich erinnere mich noch immer daran, wie der Zug in der Nacht über die Brücke fährt, und wie die Fenster leuchten. Wer hat so etwas denn schon gesehen? Immer wenn ich jetzt einen Zug sehe, kommt mir dieses Bild in den Kopf.«

Bassiliki Polidis

 

»Die Wahrheit ist: als wir her kamen, haben wir sehr viel geweint. So viele Frauen, und jede hatte ihren Kummer. Die eine hatte ihr Kind zurück gelassen, die andere sprach von ihrer Mutter. So haben wir uns hier langsam eingewöhnt und als das erste Jahr vorbei war, da ging es uns schon besser.«

Pagona Kostelidis

 

 

 

Schöner Wohnen

Im Lager

Die Unterbringung der „Gastarbeiterinnen“ und „Gastarbeiter“ ist Anfang der 1960er häufig noch notdürftig. Viele leben in Massenquartieren. Die so genannte „Baubudenverordnung“ von 1959 sieht je eine Schlafgelegenheit in Etagenbetten vor, einen abschließbaren Spind, einen Platz am Esstisch und einen Stuhl pro Person.

Baubudenverordnung

Dieser Verordnung entsprechend baut die Firma Scheidt nach der Schließung der Tuchfabrik im Jahre 1962 die ehemaligen Werkshallen zu Wohnheimen aus. Diese Art der Unterbringung scheint der damaligen Werksleitung als vorbildlich. Tatsächlich wirken die Räumlichkeiten auf den in der Deutschen Kommission in Thessaloniki gezeigten Imagefotos groß und licht. Vor Ort werden sie von den griechischen Arbeitsmigrantinnen häufig als bedrückend empfunden.

 

 

 

»Wir konnten da nur mit dem Ausweis rein. Die Frauen waren auf einer anderen Etage, verheiratete Frauen getrennt von den ledigen, die Männer wieder wo anders. Wir nannten es Boudroumia, Knast. Weil unser Zimmer 20 Treppenstufen unter der Erde war. Aber dunkel war es nicht, wir hatten überall schöne Lampen und Lichter.«

Pagona Kostelidis

 

 

 

Geschlechtertrennung

Im Wohnheim der Firma Scheidt herrscht Geschlechtertrennung: eine Etage nur für ledige Männer, eine für ledige Frauen. Über Besuche wacht das Aufsichtspersonal der Firma Scheidt streng: Dennoch entspinnen sich unter diesem Dach unzählige Liebesgeschichten, so viele, dass später eine weitere Etage für Ehepaare eingerichtet wird.

 

»Als ich herkam, gaben sie uns ein Zimmer, mit zwei kleinen Betten, auf denen karierte Bettlaken lagen. Wie im Gefängnis. Damals war unten eine Dame, wir nannten sie Frau, weil wir dachten, Frau sei ihr richtiger Name. „Die Frau kommt, die Frau kommt!“ Sie sagte uns, wann wir die Bettwäsche wechseln sollten, wir gaben die Schmutzwäsche ab, und bekamen die Saubere.«

Bassiliki Polidis

 

Auf dem Tanzboden

Zugleich nimmt man sich die Freiheit, am Wochenende unter dem Dach der alten Tuchfabrik alle Tische und Stühle beiseite zu schieben und zu tanzen. Nicht nur die traditionellen griechischen Chasaposervika, sondern auch Gesellschaftstänze, unter anderem: den Tango.

 

 

 

»Und oben auf dem Dach, da war ein Fernseher und wir versammelten uns alle und haben ferngesehen. Auf hundert Griechen kam ein Deutscher. Wenn Scheidt nicht Menschen aus uns gemacht hat, dann weiß ich auch nicht...«

Chrissloula Dimadis

 

 

 

 

»Wir hatten zwei graue Decken aus Griechenland mitgebracht. Und als wir im Lager waren, da war ja Zement auf dem Boden, da haben wir die Decken auf den Boden gelegt, wie einen Teppich. Und als Wittkämper kam und das sah, hat ihm das sehr gefallen. Wir hatten da auch eine Blume am Fenster und er nahm seine Schere und schnitt die verdorrten Blätter ab.«

Pagona Kostelidis

 

 

 

»Einmal, da kam der Wittkämper, das haben wir vergessen zu erzählen, als wir im Lager waren, da sind wir gerade eingezogen. Und er kam und hat uns alle versammelt und mit uns gesprochen. Er hat uns gesagt, wir sollen keine Kinder kriegen. Das Lager sei nicht für Kinder geeignet.«

Fani Gkaintatzis

 

 

 

 

»Anfang Januar bekamen wir unsere Tochter, aber unser Kind war sehr unruhig, überall Radios, Babys, die Kinder hielten es im Lager nicht aus. Mit einem Jahr haben wir sie runter gebracht (nach GR), aber das haben wir nicht lange ausgehalten. Nach einem Jahr haben wir das Kind zurückgeholt und Scheidt hat uns dann ein Haus gegeben, da wo jetzt die Corneliusstraße ist, das war damals die Essener Straße.«

Anna Gkaintatzis

Akkorde

Arbeiten im Akkord

Es gehört zu den zentralen Selbstbildern des deutschen Wirtschaftswunders, ein industrielles Kraftzentrum zu sein, das eine quasi magnetische Anziehungskraft ausübt auf die Ränder Europas. Auch die Firma Scheidt ist in den 1960er Jahren ein solcher „Magnet“: Der Anfangsoptimismus der griechischen Arbeitsmigrantinnen und - Migranten speist sich nicht zuletzt aus dem Stolz, gebraucht zu werden, dort in Deutschland, und damit selbst ein Teil dieses „Wunders“ zu sein. Die Leute sind harte Arbeit gewöhnt. Trotzdem verlangt die Arbeit in Scheidts Kammgarnspinnerei eine ganz neue körperliche und psychische Disziplin. Die Frauen arbeiteten meist in der Ringspinnerei. Anfangs hat eine Kraft 200 Spindeln zu bedienen, später wird der Akkord bis zu 800 Spindeln hochgetrieben. Man arbeitet in drei Schichten, die Männer vor allem nachts.

 

»Ich war in der Spulerei. Das war Akkordarbeit. Ich musste rennen wie eine Verrückte. Dicke Frauen haben da nicht gearbeitet, nur dünne Frauen. Damit sie rennen, rennen, rennen. 8 Jahre lang habe ich das gemacht. Aber natürlich gefiel es mir, 8 Stunden, tsak, um zwei hatten wir schon Feierabend. Das hat mir tausendmal besser gefallen als in Griechenland.«

Fani Gkaintatzis

 

 

 

 

»Einmal habe ich zwei verschiedene Woll-Qualitäten vermischt. Das hat die Meisterin gesehen und geht und ruft den großen Meister. Und das werde ich nie vergessen, wie er kam und mich gewürgt hat. Er hat mir hier so gegriffen: „Was hast du gemacht, schrie er, was hast du gemacht?!“ Ich hab damals ja kaum Deutsch verstanden, er hat mich sehr erschrocken. Und dann fing ich an zu weinen, und dann hat er es bereut. Dann kam er immer zu mir, Nula Nula – alle Griechinnen hat er Nula genannt – Nula weine nicht.«

Pagona Kostelidis

 

 

 

 

»Nach der Arbeit hab ich Gartenarbeit gemacht. Öfters gab mir die Frau von Geiker seine alten Mäntel, er war ja damals Betriebsleiter bei Scheidt. Und sie gab mir auch seine Jacken und so und damals 61, da kamen dann die ganzen Griechen, und ich hab denen die Sachen verkauft, für 40 Mark.«

Georgios Gkaintatzis

 

Konsum

Den Löwenanteil des Verdienstes überweisen die so genannten „Gastarbeiter“ nach Hause, um ihre Familien zu unterstützen und die eigene Rückkehr vorzubereiten. Die heimischen Ökonomien rechnen so fest mit ihren Devisen, dass manche der Migranten das Gefühl beschleicht, man habe sie nach Deutschland „verkauft“. Das ‚Markenbewusstsein’ der deutschen Wertarbeit setzt sich auch bei ihnen durch: Kettwig – führend in feinen Kammgarnen. Während der Arbeitszeit träumen sie sich dem feinen Tuch und anderen Produkten „deutscher Wertarbeit“ entgegen, um sie im Tausch gegen die Lohntüte in Empfang zu nehmen. Bei der Urlaubsreise bringen die so genannten „Lazo-Germani“ ihren Verwandten Kaffeemaschinen und tragbare Transistorradios der Marke Grundig als Geschenk dar. Man beschwichtigt die Zurückgebliebenen, Eltern wie Kinder, man besticht sie. Und man sonnt sich in der Bewunderung derer, die nie aus dem Dorf herausgekommen sind. Man erfindet sich ein Leben.

»Wir gingen oft einkaufen, wir holten uns Mäntel, Jacken, haben viel neu gekauft und auch viel nach Griechenland geschickt. Für uns haben wir zuerst Kochtöpfe gekauft, damit wir Essen machen konnten, und Teller und Besteck auch, wir hatten ja nichts.«

Pagona Kostelidis

 

 

 

 

Migration Love Stories

Familienbande

Zum magic moment zwischen Frauen und Männern aus Griechenland und Deutschland kam es anfangs nur selten. Das Volkslied in Griechenland warnte die Söhne seines Volkes eindringlich, sich in der „schwarzen Fremde“ nur nicht auf eine Frau einzulassen. Hätte ihn die fremde Frau erst einmal in ihre Netze verstrickt, wäre er für seine Heimat verloren. Die Warnung vor der Verbindung ist auch von deutscher Seite ausgesprochen worden: In Broschüren aus den 1960er Jahren werden Zweifel gesät, ob das Verhältnis junger deutscher Frauen und junger ausländischer Männer überhaupt ein gutes Ende nehmen kann. So bleiben die meisten Griechinnen und Griechen unter sich und werben um einander.

»Wir hatten damals eine andere Liebe als ihr heute. Mit Briefen, keine Verabredungen. Wir haben viele Briefe geschrieben, voller Liebe, aber wir konnten uns nicht treffen, sonst hätte man uns gejagt.«

Kiparissia Tetou

 

 

 

 

»Ein Verrückter und ein Verliebter sind ein und das gleiche, sie schlafen nur in verschiedenen Betten.«

Evangelos Tetos

 

 

 

 

»Dann versuchte er mich anzufassen, nur so, wie unter Freunden. Aber ich schlug seine Hand weg und sagte: Deine Mama hat deine Arme wohl zu lang gemacht?! Und so begann die Geschichte.«

Roula Karpatsa

Familienbande

Die Migration zerreißt ein lebendiges Netz von Beziehungen, erfindungsreich versucht man es wieder neu zusammenzunähen. Insbesondere die Einheit der Familie wird in den ersten Jahren der Migration zu einer „Utopie“, einem ‚Nicht-Ort’, der (re-)konstruiert werden muss.

 

 

 

 

Die Ballade vom Gastarbeiterkind

Es ist üblich, dass so genannte „Gastarbeiterkinder“ bei ihren Großeltern in Griechenland aufwachsen. Um die Eltern, die zum Arbeiten in Deutschland sind, an der Entwicklung ihrer Kinder Anteil nehmen zu lassen, lassen Großmütter die Kinderhände auf Papier aufmalen. Und wenn ein Mädchen die Sehnsucht nach ihrer Mutter überkommt, geht sie zu ihrem Kleiderschrank und atmeten den Duft ihrer Kleider ein.

Kofferkinder

»Ich bin in Kettwig geboren. Meine Mutter hat mich mit einem Monat eingepackt, ist dann mit der Bahn nach Florina gefahren und hat mich bei meinen Großeltern abgegeben. Meine kleine Tochter ist jetzt neun Monate alt. Unvorstellbar, dass ich sie für einen Tag weggeben könnte, ich würde sterben.«

Evangelos Popis

 

»Ich hab ne super Hammer Kindheit gehabt bei meinen Großeltern. Ich hab Situationen gehabt, dass ich mit meinem Opa draußen auf der Treppe saß und ich so gerne Sporia aß - also die Kürbiskerne - und er für mich die Sporia geöffnet hat, mit seinen Händen, weil er keine Zähne mehr hatte.«

Evangelos Popis

 

»Woran ich mich extrem hart erinnere. Wie die Eltern mich abgeholt haben. Ich glaube, in dem Moment bin ich erwachsen geworden, wo das Taxi abfuhr und ich nach hinten blickte und meinen Opa und meine Oma auf der Straße gesehen habe wie sie winkten und ich in dem Moment einfach nur gewusst habe, ok, hier ist ein ganz besonderer Moment, wer weiß, wo die Reise hingeht«

Evangelos Popis

 

Zwei Welten

Häufig dauern diese Trennungsgeschichten zwischen Großeltern, Eltern und Kindern über viele Jahre. Wer schreiben kann, schickt eine Ansichtspostkarte oder einen Brief:

Die Frau braucht Geld, die Schwägerin wünscht sich einen elektrischen Mixer, und ein entfernter Vetter bittet darum, auch ihm einen Arbeitsplatz in Deutschland zu besorgen. Den Umschlägen liegen Fotos der Familienangehörigen bei, die Rückseiten beschriftet: „Von einem Vater für seinen geliebten Sohn, damit er ihn nicht vergisst.“ Der Blick ins Familienalbum der Migration zeigt es: Bilder, die in den ersten Tagen nach der Auswanderung hin und hergeschickt werden, die als Platzhalter fungierten, und im häuslichen Leben einen zentraler Ort der Andacht eingerichtet bekommen. Es sind Bilder der Absenz, zugleich Zeugnisse der Überbrückung von Zeit und Raum.

Geister-Stimmen

Manchmal kann die Stimme sogar eine bessere Vertretung sein als die Schrift. Man verabredet sich für Tag und Stunde, um im Gemischtwarenladen an der Ecke zu telefonieren. Und selbst, als die ersten ihren eigenen Anschluss legen lassen, um pünktlich Sonntagsmittags die Ferne herbeizuzitieren, sind die Leitungen überlastet und jedes Wort ist teuer.

Handys und Internet lassen die Welt endlich zu einem Dorf zusammenschrumpfen.

Deshalb sind sie gerade im Leben der Migranten eine Revolution.

 

 

 

 

»Es gab nur Briefverkehr, Telefone gab es damals nicht. Nur eins im Rathaus unseres Dorfes. Und ich vergesse nie, als mein Vater das erste Mal anrief. Mein Großvater fing an zu weinen, weil er die Stimme seines Sohnes hörte. Stell dir vor, wie damals das Telefon war. Er weinte und sagte: Ich kann meinen Sohn hören.«

Kiparissia Tetou

 

 

 

 

»Die erste Zeit, als ich meine Große unten ließ, hab ich nur geweint. Wenn ich nicht alle zwei Tage einen Brief bekam, dann rannte ich los um ein Telefon zu finden. Sie sollten meinen Vater zum Rathaus holen, damit ich mit ihm sprechen kann.«

Roula Karpatsa

Das Moulin Rouge

place to be

Im Moulin Rouge in der Kettwiger Altstadt – später in Akropolis umbenannt – kann man abends seinen Ouzo trinken, oder deutsches Bier, und Karten spielen.

 

Patrida

 

»Hier war die Akropolis früher drin. Hier war die Hölle los. Hier mussten die Kinder immer reingehen, um die Väter rauszuholen, weil die Mütter immer gesagt haben: ‚Hol mal deinen Vater.’ Kartenzocken ist eine Seuche; am Kartenzocken sind viele Familien kaputt gegangen hier in Kettwig.«

Evangelos Popis

 

Hier im Akropolis müssen die Töchter und Söhne der Gastarbeiter am griechischen Nationalfeiertag auch Gedichte aufsagen, in einem Saal voller griechischer Wimpel, mit stolz geschwellter Brust.

 

 

 

Das Kino am Hexenberg

Im Hexenberg - Kino gibt es in regelmäßigen Sonntagsmatineen die Möglichkeit, griechische Heimatfilme zu sehen.

Hier ist es sogar erlaubt, die griechischen Sporia – Sonnenblumenkerne – zu knacken und zu kauen. So bietet das Kino Unterhaltung und das Erlebnis von „parea“ – Gemeinschaft.

 

 

 

 

 

 

»Es gab ein Kino hier und damals während der Diktatur in Griechenland, da wurden uns Schauspieler geschickt und Sänger, und der Eintritt war dann für uns frei. Vassiliadis ist gekommen, Zaninoz, Polipanou, der Kurkulos, viele sind damals gekommen. Jeden Sonntag gingen wir hin – und einmal, da gab es vor dem Kino einen Streit, da haben sie einen Jungen abgestochen, einen Griechen.«

Victoria Parastatidis

Alltag

Begegnungen, Sprachhemmungen, Blickkontakte

Die Befindlichkeiten der Migranten lassen sich als Zustand des „Außergewöhnlichen“ beschreiben:

Nach ihrem Tapetenwechsel tappen sie herum in einer Welt der in Frage gestellten Muster.

Von der Migration zur „Einwanderung“ ist es ein weiter Weg. Es bedeutet Anspannung, sich in einem fremdsprachlichen Raum zu bewegen.

Es kostet Anstrengung, neben und nach der Arbeit eine Sprache zu lernen.

In der Begegnung mit den Einheimischen ist da immer ein Gefälle: Wo der eine stottert, um jedes Wort ringt, da zeigt der Andere sein Heimrecht schon allein, indem er die Sprache beherrscht.

 

 

 

 

 

 

»Damals hat man uns Lexika gegeben, aber ich konnte damit nicht lernen. Ich ging Brot einkaufen, oder Kartoffeln. Dann sagte ich Griechisch „Patata, deutsch?!“ Dann sagten sie „Kartoffel“. Und zack, habe ich es mir gemerkt. Dann sagte ich griechisch „Psomi, deutsch?!“ „Brot“, zack im Kopf gespeichert. Und so habe ich das ganz schnell gelernt, schon nach einem Monat konnte ich viel.«

Chrissoula Dimadis

 

 

 

Eingewöhnung

Aber allmählich gewöhnt man sich ein. Die Gewöhnung stiftet den Zusammenhang, macht aus der Umwelt einen Orientierungsraum. Einem Blinden gleich, der lernt in der vertrauten Umgebung ohne Stock zu gehen - und ohne Zögern. Eine Erfahrung, die mit der Zeit auch die Migranten machen:

Man versteht immer mehr. Wird mutiger. Verliebt sich. Feiert Karneval. Spielt Fußball.

„Besetzt“ öffentliche Orte. Macht Ausflüge in die Umgebung.

 

 

Sonderzug Betriebsausflug

»Wir haben in der Griechenzeit auch Betriebsausflüge gemacht. Zum Beispiel einmal nach Königswinter. Von Kettwig nach Königswinter mit einem Sonderzug. Also an einem normalen Zug wurden zwei Waggons angehangen. Wir waren ja immerhin eineinhalb bis zweitausend Mann! Von den Zügen auf die Anlegestelle und dann auf die Dampfer, zwei Stück hatten wir davon.«

Willy Wittkämper

 

Sonntags in der Kriegsruine

Sonntags kommt ein Priester in eine der ehemaligen Scheidtschen Villen, um in der Kriegsruine provisorisch Liturgie zu feiern. Die Religion der ersten Migrantengeneration ist „ortslos“. Die Kirchendiener der Orthodoxen sind anfangs mobile Einheiten, die im Bedarfsfall einer Hochzeit, einer Taufe oder einer Beerdigung zum Einsatz kommen.

Die „sieben Sachen“ für die Liturgie haben sie im Auto, zelebriert wird überall, im Wohnheim, im Park, in gemieteten Sälen oder den Schwesternkirchen. Man improvisiert viel: baut Ikonostasen aus Kalenderblättern, der Waschzuber wird zum Taufbecken umfunktioniert.

 

 

 

 

 

Die Ruhr

Sehen und gesehen werden

Der vielleicht wichtigste Treffpunkt – und zugleich einer der zentralen Erinnerungsorte der Griechen von Kettwig – ist die Ruhr. Hier am Ententeich verabredet man sich im Sonntagsstaat zur „Volta“:

Hier geht man Spazieren, macht Picknick, spielt Murmeln, liest Zeitung oder schaut sich die Passanten an, die von der anderen Seite der Brücke herüberkommen.

Fotografiert wird viel, heute würde man solche Fotos „Selfies“ nennen.

 

 

 

»Die Wahrheit ist, damals sagte man hier ist Klein-Athen, so viele Griechen wie hier waren. Unten an der Ruhr, alles voller Griechen.«

Chrissoula Dimadis

 

 

 

 

»Sonntagnachmittags versammelten sich, ohne zu übertreiben, um die 2000 Menschen hier unten. 1000 davon, die hier arbeiteten und lebten, und weitere 1000 Männer und Frauen aus den umliegenden Dörfern. Eine wahre Brautschau fand hier statt. Und so viele Spaziergänge – das Spazieren war damals in Griechenland Mode, und auch hier gingen die Menschen nachmittags auf die Straße, sie trafen sich, unterhielten sich, was man heute über das Internet macht.«

Evangelos Tetos

 

 

 

 

»Wenn man unten an der Ruhr war, hat man keine andere Sprache als Griechisch gehört. Deutsche gingen da gar nicht hin.«

Ioannis Palatianos

 

 

 

 

»Wo wir Freizeit verbrachten? Unten an der Ruhr. Von der Brücke, bis hin zu den jetzigen Ruinen. Wir spielten Murmeln, aber auf griechische Art. Die Deutschen konnten nicht an uns vorbei, weil wir den ganzen Weg blockierten. Man konnte hören, dass die Deutschen murmelten, so was wie: Was machen die denn hier, hier ist doch nicht Griechenland. Aber wir ließen es nicht bleiben und spielten jeden Nachmittag.«

Nikos Polidis

 

 

 

 

»Unten am Fluss, da an der Kastanie, an der kleinen Brücke, da war der Treffpunkt der Griechen. Das lag auch am Restaurant, das ja so viele Jahre griechisch war. So viel Kummer und verbitterte Worte über dieses Leben wurden unter dieser Kastanie gesprochen. Man kann sich nicht vorstellen, was sie alles mit angehört haben muss.«

Evangelos Tetos

 

Heimkehrer auf Zeit

Touristen im eigenen Land

Anfangs gibt es im Auto nach Süden noch die Scheuklappen, den Tunnelblick. Man lenkt den Blick auf die Fahrbahn nur, um möglichst schnell Kilometer zu machen. Ohne Pause Gas geben, wie mit dem Finger auf der Landkarte, als wäre die ganze Strecke Kettwig - Kavala ein Korridor. Unterwegs zum Mittelmeer haben die Alpen keine eigene Schönheit, sie stehen nur im Weg. Jede Stunde ist kostbar. Während den riskanten Überholmanövern auf der so genannten „Todesstrecke“ halten sich die Kinder im Fond des Wagens die Augen zu. Kaffee und Kölnischwasser als Muntermacher.

 

 

 

 

»Ich erinnere mich an die Kinder, wie sie manchmal riefen: Mensch Papa, in Österreich hast du gesagt, wir halten, damit wir zur Toilette können, in Jugoslawien dann auch, und jetzt sind wir schon in Griechenland und du hast noch immer nicht angehalten. Autoput, aber wie!«

Roula Karpatsa

 

 

Griechisches Licht

Dass Griechenland schön ist, wussten die Griechen. Für die griechischen „Sehenswürdigkeiten“ interessieren sie sich erst jetzt. Beginnen langsam, die alte Heimat mit den Augen von Touristen zu sehen. Zum ersten Mal im Leben eine Kreuzfahrt auf der Ägäis. Und dann das berühmte griechische Licht...!

 

 

 

 

»Wir waren in Athen, auf der Akropolis, in Parga unten bei Ipirus, wir sind viel gereist, damit die Kinder auch ihre Heimat kennen lernen. Auch auf der Chalkidiki. Wir waren nur wenige Tage im Dorf, nahmen das Auto und los ging’s.«

Roula Karpatsa

 

 

 

 

Das wahre Leben anderswo

Das Wirtschaftswunderland Deutschland war ein Sehnsuchtsort für die griechischen Arbeitsmigranten: „So leben bei uns nur die Aristokraten.“ Und auch Griechenland wird zum Sehnsuchtsort für deutsche Urlauber und Touristen. Und auf dem langen Weg von Zaziki und Gyros zum deutschen Nationalgericht haben auch Deutsche Häuser an den Küsten des Mittelmeers erworben. Da sind Griechen und Deutsche jetzt, wie auch hierzulande, Nachbarn.

 

Da haben wir wenigstens Wärme

»Es war in der Ruhrstraße, da war irgendwie unter dem Dach die Möglichkeit, Feste zu feiern. Und da saß eine Dame neben mir, die konnte noch nicht sehr viel Deutsch, die hat den ganzen Abend gejammert: „Mein Kavala ist so schön!“ Wir fuhren immer zur Ostsee, weil mein Mann aus Norddeutschland kommt. Und dann haben wir gesagt: sollen wir im nächsten Sommer nicht mal nach Griechenland fahren, dann haben wir wenigstens einmal Wärme. Ja wohin, ja diese Frau Lemonia hat doch immer gesagt Kavala ist so schön. Und dann haben wir auf dem Atlas geguckt: wo ist Kavala, fahren wir nach Kavala. Und dann sind wir auf gut Glück mit dem Auto nach Kavala gefahren! Dann sind wir mit denen aufs Feld gegangen. Das war im Nestostal – ein wunderschönes verträumtes Tal! Ganz stolz wurden die Kartoffeln aus der Erde gegraben. Und dann musste ich Kartoffelsalat machen. Da war nämlich gerade eine Grieche aus Deutschland zu Besuch und der meinte, der deutsche Kartoffelsalat wär so schön.«

Pauline Mangelsen, Alt - Kettwigerin

 

Niederlassung

Eine neue Phänomenologie der Arbeit

Zur Zeit der Anwerbung der Gastarbeiter ist der Zenit der Industriearbeit schon überschritten. Fließbandarbeit gerät in die Krise, die Ära der blue collar-worker ist vorbei. Diese Erfahrung muss man an vielen Orten im Ruhrgebiet machen, auch bei Joh. Will. Scheidt. Pünktlich zum Anwerbestopp für ausländische Arbeitnehmer im Jahre 1974 schließt die Firma. Viele griechische Einwanderer machen sich in dieser Umbruchphase selbstständig, zunächst mit einfachsten Mitteln. Das führt zu einer ganz neuen Phänomenologie der Arbeit: Griechische Migranten eröffnen Nähereien, Tavernen und „Patatadika“– Pommesbuden.

 

 

 

 

»Die erste Schneiderei habe ich 78 eröffnet, auf der Hauptstraße. Als ich später schwanger wurde saß ich in der Schneiderei und bis mein Bauch ganz groß wurde, kniete ich und hab Kleiderproben mit den Kundinnen gemacht. Am nächsten Tag ging ich zur Entbindung. Ich arbeite viel mit Deutschen, nicht mit Griechen, die meisten von ihnen können ihre Sachen selber ändern. Aber meine deutschen Kunden lieben mich sehr und ich sie auch.«

Soula Palatianou

 

Dauerprovisorium

Viele Griechinnen und Griechen haben ihren Traum von der Rückkehr nach Griechenland nie aufgegeben, aber immer weiter aufgeschoben. Im Alter können sie nicht mehr auf die Zukunft wetten, die Rückkehroption entpuppt sich als eine Illusion. Ohne dass sie es merken, ist ihnen Kettwig längst zur Heimat geworden.

 

 

 

 

 

»Hier sind wir die Fremden, die Griechen, und in Griechenland sind wir die Deutschen, da nennen sie uns „Lazogermani“ – "die Lazogermani sind da!" Es zieht uns nach Griechenland, aber es zieht uns auch hier nach Deutschland hin. Mich zieht es nach Kettwig.«

Kiparissia Tetou

 

 

 

 

»Ich erinnere mich nicht daran, je den Gedanken gehabt zu haben, warum lebe ich hier. Auch heute noch, wo ich schon 58 Jahre alt bin, gehe ich noch zum Fußballplatz und spiele, auch wenn ich jetzt nur noch der einzige Grieche unter allen Deutschen bin, es macht mir sehr viel Spaß.«

Evangelos Tetos

 

 

 

 

»Wenn ich noch einmal geboren werden würde, und noch einmal auf diese Welt käme, dann würde ich mir die gleiche Mutter, die gleichen Eltern wünschen, die gleichen Geschwister und die gleiche Heimat. Und ich würde wieder hier leben wollen, so wie ich es getan habe.«

Evangelos Tetos

 

»Also das gesamte Gelände, die alte Scheidt-Fabrik, die 1974 geschlossen wurde, aber damals noch stand, die haben wir Griechenkinder uns erschlossen, erkämpft. Und zwar sind wir da durch gelaufen und haben das Gelände Millimeter für Millimeter erforscht. Das war interessant. Viele Sachen lagen rum. Viele Räume, teilweise beängstigende Räume, riesige Pfützen. Es gab einen gigantischen Turm, den quadratischen Turm, der hatte oben eine Art riesigen Balkon, von dem konntest du über ganz Kettwig gucken. Und wir haben da oben Picknick gemacht, haben uns Essen mitgenommen, sind durch die Scheidtschen Hallen gelaufen und haben da oben praktisch mit dem Blick über ganz Kettwig Picknick gemacht.«

Evangelos Popis

 

 

 

 

Unternehmenserbin eben nicht!

»Mein Vater war bis 48 in Australien und wäre sehr gerne dort geblieben, er wollte nicht zurückkommen. Klar gab es ein Traditionsbewusstsein. Aber da mein Vater selbst vielleicht übermäßig mit Traditionen konfrontiert gewesen ist, hat er uns eher versucht aus dem Dunstkreis der Firma und dieser speziellen Situation hier in Kettwig herauszuhalten. Was meine Eltern, glaube ich, überhaupt nicht wollten war, dass wir das Gefühl haben, dass wir etwas Besonderes sind«

Gabriele Scheidt

 

Bekannt wie bunte Hunde

»Natürlich kannten die einen. Auch in der Schule. Sowohl in der Volksschule als auch im Gymnasium waren damals Kinder von Leuten, die bei uns gearbeitet haben. Ich fand das immer sehr unangenehm. In der Volksschule noch unangenehmer. Ich hatte das Gefühl, man versucht mich hinten rum auch etwas zu mobben. Gerade wegen dieses Sonderstatusses. Insgesamt war es schon so, dass wir bekannt waren wie die bunten Hunde, das ist klar. Dieses Kettwig war immer auch ein Korsett. Mein Vater hatte keine Lust, die Firma zu übernehmen, hat es dann aber doch getan, wollte aber dieses Schicksal seinen eigenen Kindern ersparen. Gott sei dank hat er hier keinen als „Erben“ großgezogen.«

Gabriele Scheidt

 

Gemeinsames Ostern

»Anfang der 60er Jahre hatten wir einen griechischen Gärtner. An den Osterfesten, an die ich mich immer noch wahnsinnig gern erinnere, da kam dann die ganze Familie und dann bekam jeder so ein Körbchen in die Hand gedrückt und dann wurden die Ostereier und Geschenke im ganzen Garten verteilt. Und da zogen wir dann alle gemeinsam durch den Garten und suchten die Geschenke und wir haben dann natürlich auch zusammengespielt wer ist schneller als der andere. Das war auch lustig, weil es war schwierig, sich zu verständigen, aber unter Kinder geht das. Der Gärtner hatte eine Tochter. Sie war ungefähr in meinem Alter. Ich weiß noch, sie war extrem hübsch angezogen, in einem rosa Kleid mit so einem Tüllrock, ich hatte immer Angst, o Gott, hoffentlich darf sie sich überhaupt dreckig machen«

Gabriele Scheidt

 

Elliptisches Bewusstsein

Die Mehrheit der Griechen hat ihre Zelte in Kettwig abgebrochen: Sie sind heute die Besitzer jener Bauten um den alten Dorfkern herum, wie es sie überall in Nordgriechenland gibt – Altersvorsorge in Beton gegossen. Aber sowohl die Heimkehrer auf Zeit wie die Niedergelassenen auf Raten unterhalten weiterhin enge Beziehungen zueinander. Und so erscheinen ihre transnationalen Migrationen heute in einer Zeit großer Mobilität nicht mehr so endgültig wie einst. Mit einer Art elliptischen Bewusstseins pendeln sie, machen den Raum immer enger, „beamen“ sich nach „unten“ in den Süden und wieder nach Deutschland „hinauf“, als würden sie nur von einem Zimmer ins andere gehen.

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